Sonntag, 13. Dezember 2009

Leseprobe 2

13.00 Uhr Ankunft der Kinder am Bahnhof
Titian liest noch einmal den Informationsbogen über Kai durch. Auf dem Bild ist der Junge nicht gut zu erkennen. Das Gesicht wirkt sehr schmal, der Mund steht offen. Titian liest die Information: Kai ist 13, katholisch, Epileptiker und trägt immer Windeln. Da steht, dass er manchmal zu Auto- und Fremdaggression neigt. Kein leichter Fall. Jetzt wird Titian doch nervös. Er wünscht sich, er hätte genauer hingesehen, als gestern der Umgang mit den Windeln demonstriert wurde… Tassilo wird beiseite genommen und ihm wird erklärt, dass
Klara wahrscheinlich einer der heikelsten und schwersten Fälle ist, die in diesem Jahr mit dabei sind. Tassilo weiß, was das bedeutet. Er ist nicht das erste Mal dabei. Bis zu 24 Stunden Zugfahrt im Juni, von Ulm nach Lourdes in Zugwaggons der deutschen Bundesbahn (selbstredend ohne Klimaanlage) und man ist wirklich für alles zuständig: also füttern, waschen, spielen, schlafen legen, aufwecken, Medizin geben, wickeln, etc. Als ihm das durch den Kopf geht, kann er nicht leugnen, dass er auf einmal Angst hat.

Nach einer halben Stunde Leerlauf treffen am Ulmer Bahnhof dann auch schon die ersten Busse aus den Heimen ein. Ein großer gelber Bus biegt um die Ecke und ich kann schon den kleinen Krümel erkennen, der sich die Nase an der Fensterscheibe platt drückt. Er sabbert die Scheibe voll, und schaut uns aus seinen kleinen Schlitzaugen neugierig an. Er ist neun Jahre alt, aber sehr klein für sein Alter. Dann winkt er. Ich winke zurück und eine innere Freude, gepaart mit Aufregung quillt in mir auf:
Jetzt sind sie da.
Jetzt geht es los.
Das Team rottet sich am Bürgerstieg unweit vom Bus zusammen und schaut eher ängstlich dem Bus entgegen. Zumindest die Neuen. Ich erinnere mich noch gut an mein erstes Mal, als ein etwa zwölfjähriger Wirbelwind mir aus dem Bus entgegenstürmte und die damalige Chefin nur zu mir meinte:
„Der ist deiner für die Woche.“
Ich hinter ihm her, weil sich heraus stellte, dass er nicht umsonst vier Ausrufezeichen auf dem Namensschild hatte. Das steht für Weglauftendenz!!!! Na prima.
Den Schock der ersten Begegnung kann ich auch meinen Neuen nicht ersparen. Ich steige erstmal in den Bus und begrüße die begleitende Schwester. Es ist eine Ordensschwester in schwarzem Habit. Sie ist Betreuerin im Heim und fährt schon zum wiederholten Mal mit uns mit. Kasper hüpft schon aufgeregt auf seinem Sitz und will aussteigen. Er kann es kaum erwarten. Also nehme ich das sommersprossige Frechgesicht mit raus und drücke ihn jemandem in die Hand, der da so steht… sein eigener Betreuer ist im Kofferteam, damit beschäftigt, Kisten auf dem Bahnsteig zu stapeln, und gerade nicht abkömmlich. Kasper macht das nichts aus – er schwätzt gleich los, will Polizei spielen oder schnell mal eine Baustelle ausheben und hat keinerlei Berührungsängste. Er kennt Lourdes bereits vom vorletzten Jahr und kann es kaum erwarten, in den Zug zu steigen. Nach und nach hole ich mir die einzelnen Teammitglieder und führe sie mit den Kindern zusammen. Titian nähert sich etwas verhalten Kai, der an der Hand der Schwester aus dem Bus steigt. Er beißt sich in den linken Handrücken und schlägt sich mit der anderen Hand aufgeregt gegen den Kopf. Titian ist total verunsichert, aber die Schwester erklärt ihm ruhig, dass man Kai an der Hand nehmen muss, da er sonst umfällt. Das Schlagen und Beißen käme von der Aufregung. Kein Grund zur Sorge. Also nimmt Titian Kais schwitzige Hand und bliebt sicherheitshalber erstmal in der Nähe der Schwester.

Tanja lernt Kordula kennen, die störrisch den Bus erstmal nicht verlassen will und Tina führt Kalle, dem es nicht schnell genug gehen kann, aus dem Bus. Theodor entfährt ein erstauntes: „So klein ist meiner“, als er den siebenjährigen Kenny zum ersten Mal sieht. Und Tatjana wirkt vor Aufregung den Tränen nahe und so bleibe ich erstmal ein paar Minuten bei ihr, um sie zu beruhigen.

„Oh je“, denkt Tatjana, als die Busse um die Ecke biegen und wünscht sich, sie wäre Zuhause geblieben. Ihr ist regelrecht schlecht vor Angst. Sie holt tief Luft und hofft innständig, dass sie nicht anfangen muss zu weinen. Da kommt auch schon jemand auf sie zu und sagt, ihr Kind sei da. Tatjana weiß, dass das Kind Kira heißt. Kira ist taub, sieht schlecht und reagiert hauptsächlich auf Berührung. Ein ziemlich großes Kind. Tatjana ist erstmal komplett überfordert, als das blinde, dunkelhäutige Mädchen aus dem Bus stolpert. Die Chefin nimmt ihre Hand und legt sie behutsam in die Hand von Kira. Sie redet ungezwungen mit Kira, obwohl diese, nach dem Pflegebüchlein, beinahe taub ist. Ein Betreuer aus dem Heim, der die Kinder an den Bahnhof begleitet hat, stellt sich zu ihnen und erklärt Tatjana ein bisschen, wie man mit Kira umgehen kann. Ihre rundliche, dunkle Hand hat sich fest um Tatjanas Arm geschlossen und sie wiegt ihren Oberkörper hin und her… Tatjana kann den Blick nicht von dem Gesicht des Mädchens nehmen und hört kaum, was der Betreuer ihr sagt. Kira, die beinahe so groß ist wie Tatjana, hat dunkle Haut und ihre blinden Augen scheinen einen aus Schlitzen heraus anzusehen. Aus dem einen Auge rinnt ein bisschen Eiter. Das schaffe ich nie, denkt Tatjana. Das schaffe ich nie und nimmer. Aber bevor sie ihrer Angst Luft machen kann, kommt Tassilo, der bereits Klara vor sich her schiebt und nimmt Kira behutsam an der anderen Hand. Er wendet sich an Tatjana: „ Komm, wir wandern schon mal hinüber zum Hotel. Da sammeln sich alle. Alles in Ordnung?“Nichts ist in Ordnung, schießt es Tatjana durch den Kopf, aber sie nickt, murmelt „Dann mal los“ und setzt sich in Bewegung.

Die Busse mit den Kindern sind bei der Laderampe des Bahnhofs angekommen. Alle sammeln sich im Bahnhofshotel, welches sich am anderen Ende befindet. Kira läuft schwankend neben Tatjana und wirft den Kopf unruhig hin und her… Klara sitzt in einem sehr kleinen Kinderwagen-Rollstuhl, den Kopf zur Seite geneigt und ins Leere blickend. Tassilo schiebt. Sie hat den Mund leicht geöffnet, so dass man die beiden Reihen unregelmäßiger Zähne sehen kann, die Tassilo schon auf dem Foto beeindruckend fand. Er hat gehört, dass Klaras Mutter während der Schwangerschaft einen unbemerkt gebliebenen Infekt gehabt hatte, der sich auf das ungeborene Kind dermaßen ausgewirkt hat, dass es schwerstbehindert zur Welt kam. Klara kann nicht selber schlucken (deswegen die Magensonde), sie kann nicht sprechen und nicht laufen. Sie ist 7 Jahre alt und lebt bereits seit einigen Jahren in einem Pflegeheim für behinderte Kinder, da ihre Mutter mit der Pflege überfordert war. Die winzige Klara vor sich in ihrem Kinderwagen und Tatjana mit Kira an der Seite, macht er sich auf zum Hotel, wo sich alle versammeln, während sie auf den Zug warten. Mittlerweile sind auch schon die Busse aus dem anderen Heim angekommen. Das Kofferteam arbeitet unterdessen schnell und effektiv unter Stephans geübter Anleitung. In systematischer Anordnung werden Koffer und Material so am Bahnsteig aufgebaut, dass sie schnellstmöglich eingeladen werden können, wenn der Zug einfährt. Meist bleibt dann wenig Zeit. Wir anderen sammeln die Kinder zusammen, nehmen noch letzte Informationen von Eltern und Heimbegleitern entgegen und wandern zum Hotel. Im Hotel heißt es erstmal einander kennen lernen. Tassilo sitzt Klara gegenüber. Sie hängt zusammengesackt in ihrem kleinen fahrbaren Untersatz, und blickt regungslos neben sich auf den Boden. Er erinnert sich an den sicher gut gemeinten Tipp aus seinem Pflegebüchlein, dass Klara so gerne gestreichelt werde. Pflichtschuldig nimmt er also ihre wirklich sehr kleine Hand, und streichelt sie ein wenig. Währenddessen versucht er, das in sich aufsteigende Gefühl schweren Unwohlseins zu überspielen, indem er Sachen sagt wie:
„Hallo Klara, ich bin der Tassilo.“
„Das sind aber schöne Ohrringe.“
„Ist dir warm? Mir auch!“
„Gleich geht’s los!“
Da Tassilo kein großer Schmuser ist, bzw. da er sich schwer tut, Gefühle durch Berührung auszudrücken, ist Klara eine echte Herausforderung für ihn. Umarmungen sind ihm grauenhaft und übertriebene Zärtlichkeiten sind ihm körperlich unangenehm. Seine Mutter behauptet, er sei als kleiner Junge besonders liebesbedürftig gewesen – aber davon ist nicht mehr viel übrig. Innerlich ein bisschen erleichtert, verabschiedet er sich dann von Klara, weil er im Kofferteam eingeteilt ist, und stürzt sich leidenschaftlich in diese Arbeit. Aber die Gnadenfrist währt nicht lange…

Ich beobachte, wie die einen schneller, die anderen langsamer Zugang zu ihrem Kind suchen und finden. Die reine Aktion – sprich dem Kind etwas zu essen und zu trinken zu geben – bringt schon die ersten Hürden. Ernsthafte Schwierigkeiten kann ich jedoch keine erkennen. Tatjana gibt Kira etwas zu trinken, wobei sie ihr mit einer Hand über den Rücken streichelt. Kira scheint das zu mögen, und Tatjana scheint ihre erste Angstwelle überwunden zu haben. Sie wirkt jedoch immer noch sehr verhalten und unsicher. Spätestens auf der Zugfahrt werden alle Hemmungen fallen. Ich wandere von einem zum anderen und freue mich über das aufgeregte Geplapper. Die ersten werden schon gefüttert und auch die erste Windel muss bereits gewechselt werden. Ich eile auf dem Bahnsteig nach vorne, um aus meiner Kiste die Ersatznamenschilder zu holen. Ein paar Namensschilder von den Kindern sind im Heim vergessen worden. Meine Unruhe hat sich mittlerweile weitgehend gelegt. Alle Kinder sind angekommen und jeder hat einen Betreuer gefunden. Meine Saalschwestern haben den Überblick über ihre kleinen Trüppchen. Und so entspanne ich mich und unterhalte mich noch mit Eltern, die ihre Kinder an den Bahnhof begleitet haben…

1 Kommentar:

  1. Unglaublich gut beschrieben, man steht ab dem fünften Satz selber am Bahnsteig. Spätestens beim Erscheinen des Busses hält man es vor Spannung gemischt mit mulmigen Gefühlen kaum noch aus.
    Spannend! Weiterlesen-mehr!
    FWT

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