Dienstag, 8. Dezember 2009

Leseprobe

18.00 Uhr Kinderabendessen
Gleich anschließend an das Abendessen kommt das große Baden. Alle sind stinkig und klebrig von der langen Zugfahrt und froh, aus den Klamotten zu kommen. Und so wird geduscht, gebadet, geschrubbt, gekämmt und Deo versprüht. Theodor stellt seinen kleinen Schützling unter die Dusche. Wasser, so steht in seinem Pflegebogen, macht ihm richtig Freude. Wie sich herausstellt, ist das richtig.
Theodor hat sich Schuhe und Strümpfe ausgezogen und die Beine seines Overalls hochgezogen. Nichts desto trotz wird es eine sehr nasse Angelegenheit – auch für ihn. Denn Kenny, der kleine Wasserfreund, jauchzt vor Freude und spritzt mit dem Duschkopf in alle Richtungen, wovon Theodor ihn lachend abzuhalten versucht. Das entzückt den kleinen Mann natürlich umso mehr, und so setzt er quietschend vor Freude das halbe Zimmer gleich mit unter Wasser, bevor er sich einseifen lässt…

Im Nachbarsaal beschäftigt sich Tassilo mit Klara. Seitdem sie auf seinem Arm im Zug eingeschlafen ist, beobachtet Tassilo sie sehr genau: ob es nun beim Füttern, Wickeln, Waschen, Vorsingen, Vorlesen oder einfach nur Halten ist. Er findet heraus, dass sie eine ganz eigene Art hat, zu bekunden, ob es ihr gut oder schlecht geht: Tut ihr etwas weh, oder fühlt sie sich unwohl, greint sie leise, aber herzzerreißend, vor sich hin, bis er gefunden hat, was sie stört. Geht es ihr gut, belohnt sie Tassilo immer wieder mit einem derart strahlenden Lächeln, dass ihm ganz weich in den Knien wird. Entsprechend bemüht er sich auch, dieses Lächeln möglichst häufig das kleine Gesicht zu zaubern. Er findet sie mit jedem Augenblick schöner: Eine unglaublich weiche Babyhaut, riesige braune Augen mit schweren schwarzen Wimpern, die ihn immer wieder für sehr lang wirkende Momente, entweder ernst oder versonnen, anschauen können – um dann an ihm herab zur Seite weg und auf irgendeinen unbestimmbaren Punkt hinweg zu gleiten. Was wohl in dem kleinen Kopf vor sich geht? Was sie wohl mitbekommt von dem, was geschieht? Und ist das wichtig? Sie hat eine prachtvolle, goldblonde Haarmähne und Tassilo wäscht sie von nun an jeden Tag und braucht dann viel Zeit, eine hübsche Zopfform zu finden. Er hat aufgehört, sich dabei komisch vorzukommen. Und sie hat winzige, wirklich winzige Finger, die eine etwas andere Form als üblich haben; vielleicht, weil diese Hände nicht sehr oft zum Einsatz kommen. Als ich zu den großen Mädchen hinüber gehe, höre ich, dass Kirsten gekotzt hat. Kirsten ist ein großes, sehr fröhliches Mädchen. Sie leidet laut ihrer Krankenakte an „mittelgradiger Intelligenzminderung“, was mir nichts sagt und nichts über sie preisgibt. Jetzt liegt sie auf ihrem Bett und freut sich, als ich mich neben sie setze. Sie hat das Kissen mit beiden Armen umschlungen und schielt zu mir hoch.

Zum Glück geht es ihr schon besser. Es war wohl eher die ganze Aufregung, als etwas Ernstes. Auch bei ihr wirkt eine ausführliche Dusche Wunder. Es wird sich rührend um sie gekümmert, und Zuneigung ist bekanntlich die beste Medizin. Ich weise die Nachwache ein. Ich zeige den drei Teammitgliedern wo der Arzt schläft und erkläre, worauf sie achten müssen. Dann ziehen sie los und lassen sich während der Abendpflege von den einzelnen Saalschwestern erklären, was in der Nacht zu tun sein wird. Ich verziehe mich nach einer weiteren Runde durch die Säale nach draußen zum Rauchen. Alle scheinen problemlos klarzukommen, Gemeinsam mit Tobias überlegen ich, was heute Abend dem Team noch angesagt werden muss. Schließlich scheinen alle mehr oder weniger sauber und bettfertig zu sein.

20.00 Uhr Abendgebet
Wir versammeln uns in einem großen Kreis vor dem Glaskasten. Tobias und Theodor spielen Gitarre und das Lourdeslied klingt aus Team- und Kinderkehlen durch den Raum. Einige Kinder sind schon in ihren Betten, die zu der Gruppe dazu geschoben werden. Kenny sitzt mit baumelnden Beinen auf dem Schoss seiner Saalschwester und summt vor sich hin. Unser Priester hat seinen Esel wieder dabei. Eine Handpuppe namens Goliath, die er sprechen lässt. Dabei ist es faszinierend zu beobachten, wie schnell sich die Kinder auf ihn konzentrieren. Sie machen mit, lachen den Esel aus, antworten auf die Fragen – mal mehr, mal weniger passend, aber voller Begeisterung. Kasper fällt fast von seinem Stuhl vor Aufregung und will ständig den Esel streicheln, während Kai neben ihm recht unbeteiligt in die Luft schaut. Immerhin hat er aufgehört, sich in die Hand zu beißen. Schließlich enden wir mit einem Segen und einem Lied:
„Von guten Mächten wunderbar geborgen.“
Fast alle können auswendig in den Refrain des bekannten Liedes einstimmen:
Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.
Die eine oder andere Träne bricht sich dabei ihre Bahn aus erschöpften Teamaugen – so manche Seele ist in müden Momenten leicht zu berühren...

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